Nicole Stern
Das Muße-Prinzip
Samstagmorgens, in der Nähe der Stadthausbrücke: Eine kleine Gruppe von höchst unterschiedlichen Menschen lauscht aufmerksam und konzentriert Nicole Stern, unserer Meditationslehrerin für das Wochenend-Modul Innere Balance: „Veränderungen wagen, positive Kräfte stärken, Stabilität finden“, eines von vier Modulen aus dem Weisheitstraining des Netzwerks Ethik heute. Geologe Joachim*, der auch als Rentner nicht zur Ruhe kommt, Hans*, der trotz seiner 70 Jahre auf den heiligen Berg in Nepal will, die jungen Studentinnen Esther* und Maria*, Zwillingsschwestern, die Nachhaltigkeit nicht nur im Studium erfahren wollen, Johannes*, Controller bei einem Touristikunternehmen, Georg*, dessen Jüngster todkrank war, die alleinstehende Marianne*, die pensionierten Lehrerinnen Erika* und Martha* und meine Wenigkeit. Uns alle eint die Sehnsucht nach Balance, nach innerer Ruhe. Die meisten sind fortgeschritten in Meditationstechniken, Begriffe wie Bodyscan, Gehmeditation und Mindfulness Based Stress Reduction (MBRS) kommen ihnen beiläufig über die Lippen. Ich dagegen kenne „nur“ Entspannungsübungen aus dem Yoga und bin schon sehr gespannt, wie dieses Wochenende auf mich wirken wird. Ich will ausprobieren, ob Meditation ein geeignetes Werkzeug für Eltern ist, um zu mehr Balance und Stabilität zu finden.
Zum Einstieg in die Thematik erzählt Meditationslehrerin Nicole von ihrer Vita und wie ihr als junge Erwachsene durch den frühen Krebstod ihrer Mutter auffiel, dass viele Menschen in einer Krise meist nicht die Ressourcen haben, damit umzugehen. Auf der Suche nach Bewältigungsstrategien und Prävention studierte sie Psychologie. Meditierte dann mehr als zehn Jahre in verschiedenen Zen-Klöstern in Amerika und Indien und beschäftigte sich intensiv mit der buddhistischen Philosophie.
Dann leitet uns Nicole an zu einer Meditation im Stehen: Ich spüre meine Füße auf dem Boden und soll nun den Blick ins Innere richten, meinen Geist beobachten, der gerade wieder alle möglichen To-Do-Listen aufrufen möchte. Jetzt aber soll er lernen, wieder das zu tun, was ich will und sich nicht zerfleddern zwischen Gestern, Heute und Morgen. Ich merke, wie ich langsam ruhiger werde. Nicole Stimme leitet uns weiter: „Stellt euch euren Mund von innen vor und versucht, die Ringmuskeln anzuheben, ein inneres Lächeln zu entfalten und diese kleine Bewegung beobachten.“ - „Und jetzt richtet den Fokus auf die Weite und Offenheit um uns herum - lauscht!“
Ich höre kreischende Möwen, vorbeifahrende Autos, dann fokussiere ich mich auf meinen Atem. Dieses „meditative Zirkeltraining“, dieses Abwechseln von Fokus und offenem Geisteszustand, wirkt erstaunlich erfrischend: Ich fühle mich hellwach und bereit für die nächste Herausforderung: Wir sollen uns einen Partner suchen und vor diesem Zuhörer laut darüber nachdenken, wie es uns gelingt, Balance zu finden: körperlich, emotional, seelisch, geistig und spirituell. Mein Gegenüber ist Johannes, der bereitwillig erzählt, wie er Balance im Tagesablauf findet, wie er durch Verzicht, durch gelegentliches Fasten, sich ausbalanciert. Meine Rolle dabei ist nur die der zugewandten Zuhörerin, ich soll nichts kommentieren oder bewerten. Nach zwanzig Minuten werden die Rollen getauscht und ich bin dran. Erstaunlich, wie leicht es mir fällt zu reden - vor der ganzen Gruppe hätte ich mehr Hemmungen gehabt.
Resilienz: Werde wie ein Fels in der Brandung
Nach dem gemeinsamen Mittagessen geht es um das Thema Krisen. Nicole berichtet sehr fesselnd aus ihrer Arbeit bei einem Kriseninterventionsteam, das sich auch mit dramatischen Entführungsfällen befassen muss. Sie erklärt uns die Resilienz-Faktoren, die die innere Widerstandsfähigkeit ausmachen: „Zuallererst gilt es, Ruhe zu bewahren und auf Signale zu achten. Dann muss man zur Klarheit finden. Seine Ressourcen nutzen und seine Verbindungen. Als nächstes auf seine Kompetenzen vertrauen und darauf zugreifen. Ganz wichtig ist es, Mut zu fassen, Vertrauen in sich zu entwickeln, vor allem aber den Mut, unangenehmen Gefühlen zu begegnen: der Angst, dem Zorn oder dem Gefühl von Ohnmacht.“ Nicole erklärt uns weiter, dass alles veränderbar sei: „Macht euch klar, dass Bewältigungsstrategien auch nur neuronale Muster sind, die man überschreiben kann. Unser Gehirn ist formbar bis ins hohe Alter: Wir können Gewohnheiten durch andere Gewohnheiten ersetzen. Hier greift Buddhas Rat, der meinte: ‚Erkenne, woran du festhältst und lerne loszulassen.‘ Das bedeutet ganz klar: Wir sind Krisen nicht ausgeliefert!“
Diese Erkenntnis hätte mir früher begegnen sollen. Wie oft habe ich mich früher gegen Krisen gewehrt, sie verdrängt, statt sie anzunehmen. Wie viel Zeit habe ich mit dem Hadern verschwendet. Dankbarkeit steigt in mir auf: Es ist ein großes Privileg, diese Selbsterforschung hier betreiben zu können.
Nach diesen Reflexionen folgen Atemübungen, um die Nachmittagsmüdigkeit zu vertreiben: Schön finde ich die Wahlfreiheit, ob ich auf dem Stuhl oder auf einem Kissen auf dem Boden sitzen oder auf der Matte liegen möchte. Auch dass die ganzen Module keine säkulare Ausrichtung haben, also nicht explizit buddhistisch ausgerichtet sind, erleichtert mir den Zugang. So kann ich mich einfacher auf das praktische Tun einlassen: Meinen Atem aktivieren, tiefe Atemzüge nehmen, nicht mehr auf die Gedanken achten, sondern auf die Zwischenräume dazwischen, wieder abwechseln zwischen Fokus und innerer Weite. Nicole erklärt uns: „Durch den Atem können wir uns aus Enge und Angst befreien, gerade vor Prüfungen oder in Situationen, die euch Angst machen, empfehle ich euch die Bauchatmung.“
Muße
Bin ich eigentlich gut darin, Muße zu finden? Mit dieser Frage befassen wir uns am späten Nachmittag. „In der Antike war Zeit für Muße und Reflexion eine Selbstverständlichkeit - erst seit der Industrialisierung ist sie verpönt als Müßiggang, als aller Laster Anfang. So haben wir es verlernt, das einfache Sein zu spüren, uns zu spüren, innere Gelassenheit, Frieden und Stille“, erklärt uns Nicole. Um unsere Präsenz zu aktivieren, gehen wir barfuß raus auf die Dachterrasse und praktizieren eine Gehmediation. Anfänglich finde ich es sehr befremdlich, meine Schritte so zu verlangsamen und mal nach innen und dann wieder in die Weite zu sehen, aber nachdem ich meine Assoziationen an den John Cleese von Monthy Phyton mit seinen lustigen Silly Walks verscheucht habe, gelingt es mir, mich auf diese neue Form von Meditation einzulassen und meinen Geist einzufangen. Ich beginne die Ruhe zu genießen. Empfinde Leichtigkeit. Frieden.
Bevor wir dann aufbrechen, gibt uns Nicole noch auf den Weg, uns zu überlegen, welche Qualität wir heute noch kultivieren wollen: Das Mitgefühl? Die Freude? Die Gelassenheit? Und dann zu versuchen, morgens, noch vor dem Aufstehen den Tag durchzugehen und uns auf diese Qualität auszurichten. Damit wir herausfinden können, was Muße für uns bedeutet, entlässt uns Nicole aus dem Kurs 30 Minuten früher als geplant.
Und nun? Was tun? Was anfangen mit der geschenkten Zeit? Diesen offenen Raum in sich zu spüren, bewerten wir meist erst mal als unangenehm, fühlen uns unsicher und angespannt. Wir sollen einfach unseren Impulsen folgen - also entscheide ich mich, eine andere Strecke zu laufen und noch ein wenig die Abendsonne zu genießen und die Fleete entlang zu bummeln. Die Spiegelungen auf der Wasseroberfläche zu betrachten, hat wirklich etwas Meditatives.
Tag 2 / Sonntagmorgen:
Statt gemütlich mit der Familie zu frühstücken, sitze ich mit den anderen, die mir mittlerweile vertraut vorkommen bei einer Tasse Tee zusammen, die Atmosphäre ist freundschaftlich, zugewandt. Brüder und Schwestern im Geiste, zuckt es durch meinen Kopf. Wir blicken gemeinsam auf den gestrigen Tag: Wie gelang die Ausrichtung auf die Dankbarkeit? Habe ich sie konstant aufrechterhalten können? Ich muss zugeben, dass sie mir zuhause angekommen wieder abhandenkam - so ähnlich erging es den meisten Seminarteilnehmern. Nicole erklärt uns, dass es hilfreich sei, sich ein Jahrbuch anzulegen und regelmäßig Einträge zur Dankbarkeit oder auch zu Mitgefühl vorzunehmen, um dies auch im Alltag einzuüben. Bei essentiellen Bedrohungen falle es uns meist leichter, Dankbarkeit zu erleben und dann den Glanz auf allem zu sehen.
Herzensqualitäten
Meditieren im Sinne Buddhas bedeute eigentlich Kultivierung von Herzensqualitäten, hilfreich sei, morgens innezuhalten, den Tag durchzugehen und sich auszurichten auf Dankbarkeit und Mitgefühl, auf Heilsames und Positives. Dann gelinge es auch leichter, Negatives in Positives umzuwandeln: Zum Beispiel seinen Ärger genau zu betrachten, dessen Energie zu spüren, diese Energie dann aber in etwas Positives zu verwandeln, z.B. in Veränderung oder Wohlwollen zu verwandeln. Wichtig sei es, unangenehme Gefühle wie Trauer, Wut und Angst nicht zu überdecken, sondern zu spüren und nicht zu bewerten. Und uns klarzumachen, wie lange wir Gefühle lebendig halten, erklärt uns Nicole am Beispiel einer gefährlichen Situation im Straßenverkehr: Auf der Autobahn fährt jemand gefährlich dicht hinter uns auf. Unsere Angstreaktion dauert in dieser Situation vielleicht fünf oder sechs Sekunden, indem wir uns aber über den anderen Autofahrer aufregen, über ihn schimpfen, nähren und befeuern wir diese Angstgefühle, diese Ohnmacht - eine ungeheure Energieverschwendung. Nicole erklärt uns sehr anschaulich, wie viel Zeit und Energie es kostet, unsere Aufmerksamkeit ständig in Negatives zu investieren, in das, was z.B. früher Vater oder Mutter gemacht haben. Hilfreicher wäre es dagegen, Verantwortung zu übernehmen für zukünftig Entstehendes und sich aus der Ohnmacht zu lösen, eine heitere Weisheit zu entwickeln.
Unser Bewusstsein ist wie ein Garten
Unsere Meditationslehrerin gibt uns ein schönes Bild an die Hand: „Unser Bewusstsein ist wie ein Garten, in dem alles wächst, auch Unkraut. Ich sehe es mir in Ruhe an, reiße das Unkraut aber nicht heraus, da es ein Teil von mir ist. In Zukunft wässere ich es nicht mehr, weil es nicht heilsam ist, sondern konzentriere mich auf die schönen Blumen wie Freude und Mitgefühl und lasse diese wachsen.“
Im Anschluss an diesen Appell zur Verantwortungsübernahme geht es mit der Selbsterforschung weiter: Wir sollen uns zu zweit gegenüber setzen und darüber nachdenken, was uns hindert, präsent zu sein und beharrlich an dem festzuhalten, was hilfreich ist. Dieses Mal erzähle ich der alleinstehenden Marianne von dem, was in mir vorgeht und bin ganz erschrocken, dass mir bei der Erforschung meines Selbst die Tränen kommen. Erstaunlich, was alles an Altlasten hochkommt, aber auch Ausreden, die nun offen sichtbar werden. Ich bin froh, dass ich nur vor Marianne spreche und sie mir wohlwollend zuhört, aber nichts bewertet und kommentiert. Diese Übung verlangt mir einiges an Anstrengung ab - auch den anderen ergeht es ähnlich. Nicole macht uns im Anschluss klar, dass Präsenz immer Schwankungen unterliegt und uns Anstrengung abverlangt, aber wir sollten versuchen, mit Humor und Heiterkeit unsere Ressourcen zu nutzen. „Erleuchtung ist kein Zustand - es ist eher etwas wie Erwachen,“ resümiert unsere Meditationslehrerin tröstlich, „wir müssen eine neue Methode meist bis zu 56-mal wiederholen, bis sich etwas Neues verfestigt.“
Fazit: Anderthalb Tage sind eine gute Maßeinheit, um sich als Anfänger auf Meditation einzulassen. Sehr gelungen fand ich die Mischung aus praktischen Übungen und den intensiven Zweier-Gesprächen angeleitet durch die Forschungsfragen, die Inquirys. Es ist eine Herausforderung, sich auf solch ein Wochenende einzulassen - und eine große Bereicherung. Hilfreich ist auch einiges davon ins Familienleben mitzunehmen - mehr Achtsamkeit zu üben und weniger Kritik.
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* Namen von der Redaktion geändert
Fragen an Nicole Stern, Meditationslehrerin und Autorin:
Bangerang: Frau Stern, wie kann man das Thema Achtsamkeit und Meditation vertiefen?
NS: Durch Lesen, eine begleitende Lektüre, die inspiriert und wo man innerlich andockt. Außerdem durch unterstützende Gespräche mit gleichgesinnten Menschen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Weisheitstraining vom Netzwerk Ethik heute, wo man als Gruppe zusammenbleibt, viermal im Jahr zusammenkommt und durch die Referenten Inspiration erhält. Meditieren lernen gelingt nur durch Übung. Empfehlenswert sind für Familien eher Wochenend-Formate, da man dort direkt in die Übung geht und Gespräche eher individuell und im Zweierrahmen stattfinden. Man lernt: Wie atme ich? Wie kann ich mich mit meinem Atem beruhigen? Wo ist Achtsamkeit im Alltag? Es ist ein Unterschied, ob man es kompakt mitbekommt oder nur in zwei-Stunden-Häppchen.
Bangerang: Welche Tipps haben Sie für Eltern, Muße-Inseln im Alltag zu verankern?
NS: In die Natur gehen. Das Gras unter den Füßen spüren, Blumen anschauen, in den Wald gehen.
Morgens sich auf den Tag einstimmen, Dankbarkeit und Mitgefühl kultivieren. Sich in Erinnerung rufen: Das Jetzt ist wichtig. In sich hineinspüren, sich fragen, wo sind meine Freiräume? Sie mit Musik, Kunst, Literatur, Spielen füllen - das sind die alten Formen der Muße.
Sanfter und milder mit sich selbst und anderen sein: In sich hineinlächeln, dadurch gelingt es, innerlich einen Schritt zur Seite zu gehen und zu reflektieren: Wofür ist dieser Streit jetzt gut? Auch in Auseinandersetzungen mit Kindern: die Hand auf die Brust legen, sanfter und milder sein. Aus der Anspannung rausgehen.
Pausen machen. Auch im Berufsalltag, bei der Hausarbeit, sich immer wieder anhalten. Innehalten, ein paar tiefe Atemzüge machen.
Es kommt auf die innere Haltung beim Tun an: Wir können Gitarre spielen lernen mit einem Leistungsanspruch oder mit Muße. Gartenarbeit kann mit Muße getan werden oder als Abarbeiten der Liste. Auch Kochen gelingt leichter mit Achtsamkeit beim Gemüseschnippeln.
Buchtipp: Nicole Stern. Das Muße-Prinzip, Verlagsgruppe Random House, 17,99 €
Netzwerk Ethik heute
Diese Plattform, die sich mit ethischen Fragen befasst, gibt mit Vorträgen und Workshops Impulse für inneres Wachstum. Die Referenten sind Philosophen, Therapeuten und Meditationslehrer. Im Herbst / Winter finden zwei Schnupper-Workshops statt, um das Weisheitstraining kennenzulernen: „Vom weisen Umgang mit Emotionen“, 9.September, 14 - 17 Uhr. Am 2. Dezember (14 -17 Uhr) geht es um „Die Macht der Gedanken“. Ort: GLS-Gemeinschaftsbank, Düsternstr. 10, 5.Stock, Kosten: 35 € pro Workshop. anmeldung@ethik-heute.org
Das Weisheitstraining wird auch 2018 wieder in vier Modulen fortgesetzt. Das 1. Modul „Arbeiten, chillen, war’s das? Achtsamkeit und Selbstwahrnehmung“ startet im Februar.
www.ethik-heute.org