Wie es dazu kommen konnte, ist bis heute ungeklärt. Auch Emil hat keinerlei Erinnerungen mehr an den Unfall, wie er im Video-Gespräch mit BANGERANG erzählt. Mit schwersten Verletzungen wird er mit dem Hubschrauber in die Hamburger Spezialklinik für Unfallverletzte nach Boberg gebracht und sofort operiert. Dieses berufsgenossenschaftliche Klinikum gehört zum Klinikverbund der gesetzlichen Unfallversicherung und besitzt eines der modernsten Zentren für Querschnittsgelähmte.
Als Emil erwacht, erfährt er, dass seine Wirbelsäule irreparabel geschädigt und die Nerven durchtrennt sind: „Zunächst einmal hört sich die Diagnose Querschnittslähmung schlimmer an, als sie eigentlich ist. Man muss da differenzieren: Als junger Mensch, der noch keine Berufsausbildung hat, ist es leichter, sich umzustellen und sein Leben neu auszurichten, als wenn man 40 ist, so wie der Landwirt, der mit mir im Krankenzimmer lag, und der bereits Verantwortung für eine Familie und seinen Betrieb zu tragen hatte. Als mir der Arzt erklärte, dass ich nie wieder laufen könne, wollte ich sofort wissen, wann die Therapien starten, damit ich so schnell wie möglich in den Rollstuhl komme.“ Und mit dieser Willenskraft gelingt es ihm, bereits 5-6 Wochen nach dem Unfall mit der Reha zu starten: „Am Anfang ging es zunächst einmal darum, mit dem Rollstuhl klarzukommen, sich alleine anzuziehen und den Alltag zu bewältigen. Drei Monate nach dem Unfall war ich wieder zu Hause. Das war der kürzeste Aufenthalt eines Querschnittsgelähmten in der Klinik. Normal sind Zeitrahmen von 4-12 Monaten.“ Sichtlich stolz und dankbar ist Emil über diesen Rekord, ergänzt aber gleich: „Es steht und fällt alles mit dem Umfeld - ich habe da sehr viel Glück und viele Menschen, die mich unterstützen.“
Da sich Emils Unfall auf dem Weg zur Schule ereignete, war die Unfallkasse Nord, bei der im Raum Schleswig-Holstein und Hamburg über eine Million Kinder in Kitas, Schüler*innen und Studierende gesetzlich versichert sind, für sein Reha-Management zuständig. „Im Krankenhaus habe ich zunächst einmal mit den Ärzten und Therapeuten zusammengearbeitet, wobei die UK Nord bereits im Hintergrund tätig war bei der Bewilligung der Therapien: Ergo-, Physiotherapie, alles wurde problemlos genehmigt, was ja manchmal, wie man so hört, bei Krankenkassen nicht immer der Fall ist.“ Emils Teilhabemanagerin Marion Schüßler von der UK Nord ergänzt: „Die gesetzliche Unfallversicherung legt großen Wert auf die persönliche Betreuung der schwerverletzten Unfallversicherten. Diese erfolgt bereits in der medizinischen Akutphase in Form eines „Reha-Managements“ und setzt sich als nachgehende regelmäßige „Schwerstverletztenbetreuung“ bei den Versicherten mit einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit fort. Drei Wochen nach dem Unfall erfolgte im Klinikum das Gespräch mit Emil, seinen Eltern und der behandelnden Stationsärztin über die schulische und medizinische Situation, über den Leistungsrahmen der UK Nord und um Leistungen der Wohnungshilfe.“
Passgenau wurden danach die nächsten Schritte in die Wege geleitet: Das elterliche Zuhause musste barrierefrei gestaltet werden. Fünf Wochen nach dem Unfall erfolgte ein weiterer Termin zusammen mit einem auf behindertengerechte Wohnungsgestaltung spezialisierten Architekten. Emil erzählt: „Als es dann soweit war, dass ich bald nach Hause konnte, hatte ich wieder direkten Kontakt mit meiner Sachbearbeiterin. Ich konnte mir das Sanitätshaus aussuchen und konnte so sicherstellen, von wirklich kompetenten Fachleuten beraten zu werden. Beim Aussuchen des Rollstuhls konnte ich das höherpreisige Modell wählen, da gab es nie Probleme. Auch nicht, als ich noch andere Anbauteile oder spezielle Reifen fürs Gelände haben wollte. Anfangs musste ich ins Erdgeschoss unseres alten Hauses ziehen, bis das neue Haus komplett barrierefrei umgebaut worden war, mit Senkrechtaufzug und Badezimmer mit ebener Dusche und unterfahrbarem Waschtisch. Sehr vorteilhaft fand ich, immer nur eine Ansprechpartnerin bei der UK Nord zu haben, egal, worum es ging. Wenn ich eine Frage hatte, dann rief ich Frau Schüßler an und die kümmerte sich. Ob nun bei Fragen wie Verletztenrente oder Parkausweis. Es gab nie Probleme, ich musste nie um irgendetwas kämpfen. Und das ist unheimlich viel wert. Ich glaube, das hat sehr viel dazu beigetragen, dass ich so schnell so locker mit der neuen Situation umgehen konnte. Mir wurde und wird diesbezüglich der Rücken frei gehalten.“ Zwei Monate nach dem Unfall kam die Teilhabemanagerin zu einem weiteren persönliches Gespräch in die Waldorfschule: Marion Schüßler erzählt: „Es ging vorrangig um die Beteiligung an den Kosten für die rollstuhlgerechte Anpassung der Schule. Danach erfolgten weitere persönliche Kontakte mit dem inzwischen volljährigen Versicherten im Rahmen der Schwerverletztenbetreuung und aufgrund der beantragten Versorgung mit einem Exoskelett. Telefonische Beratungen erfolgen regelmäßig, um neue Bedarfssituationen zu klären. Versicherte erhalten lebenslange Leistungen von der Unfallkasse Nord. Wegen der Folgen der Unfallverletzung brauchen sich Versicherte nur an einen Ansprechpartner zu wenden: Die Unfallkasse managt mit den Versicherten zusammen den gesamten unfallbedingten Bedarf. Dem Versicherten bleibt erspart, sich selbst an andere Stellen wenden zu müssen.“
Vor seinem Unfall trainierte Emil Parkour, eine sehr intensive Sportart. „Das half mir enorm, denn es ist sehr hilfreich, wenn man im Rollstuhl über eine gute Körperkontrolle verfügt.“ Mittlerweile spielt Emil Basketball, da es gerade in dieser Sportart sehr viele Angebote für Rollstuhlfahrer gibt. Ansonsten schwimmt er, fährt sein Handbike oder trainiert mit dem Exoskelett, einer Art robotische Stütze.
„Als einmal ein Aktionstag eines Herstellers von Exoskeletten in Pinneberg war, bin ich mit einem Bekannten mitgefahren und habe vor Ort ein Exoskelett ausprobiert, mit dem auch Querschnittgelähmte wieder laufen können. Man kann dann erst einmal ein Vierteljahr zur Probe trainieren, was aber natürlich, weil es sehr kostspielig ist, erst einmal genehmigt werden muss. Vor einem Jahr habe ich dann das Ganze richtig angepackt und damit ein halbes Jahr trainiert, bis mir jetzt ein Leasing für ein Exoskelett für 5 Jahre genehmigt wurde. Damit kann ich im Haus, aber auch draußen jederzeit trainieren. Gesteuert wird das Ganze über eine Armbanduhr, man hat einen Gurt um den Bauch, rechts und links Schienen, die an den Beinen festgebunden sind und Bügel vor den Knien. Diese Schienen werden von dem Gerät in Bewegung gesetzt, so dass man damit Laufbewegungen machen kann. Und dann macht man, gestützt auf Krücken, Schritt für Schritt. Zur Sicherheit benötigt man aber auch einen Begleiter, falls man mal hinfällt. Für mich ist das Gerät ein Mittel zum Zweck, damit meine Sehnen sich nicht verkürzen und vor allem meine Knochendichte erhalten bleibt. Die Muskulatur wird trainiert, aber auch das ganze Organsystem und der Kreislauf arbeiten deutlich besser, weil das Bewegungen sind, die der Körper braucht. Das erleichtert wiederum deutlich meinen Alltag und das ist für mich der Hauptgrund, warum ich damit trainiere und nicht, um damit meinen Alltag anders zu meistern. Manche Leute nutzen solch ein Exoskelett im Arbeitsalltag, aber für mich, der ich aktuell gerade mein Abitur mache, ist es im Schulalltag zu umständlich.“ Nach einer solchen Trainingseinheit mit diesem faszinierenden und futuristischen Therapie-Tool ist Emil dann auch wieder froh, im Rollstuhl zu sitzen: „Das ist deutlich gemütlicher“, lacht er. Auch durch Corona lässt sich der unheimlich reif wirkende 22-Jährige nicht unterkriegen, dafür ist er einfach viel zu beschäftigt.
Er beginnt im August eine Ausbildung in Kiel zum Immobilienkaufmann und zieht dann in eine bereits angemietete eigene Wohnung um. Emil erhält eine Rente von der UK Nord, die es ihm ermöglicht, ohne finanzielle Sorgen seinen Weg zu bestreiten. Auch sein PKW-Führerschein wurde unterstützt von der UK Nord und der Umbau seines Autos. Bei allen Fragen der Mobilität, des Alltags und der Zukunft unterstützt die Unfallkasse, um eine maximale Selbständigkeit und größtmögliche Unabhängigkeit und Teilhabe am Leben zu ermöglichen. „Das trägt sehr dazu bei, dass man sein Leben wieder anpacken kann, weil einem der Rücken so freigehalten wird. Das ist viel wert, ansonsten wäre ich vielleicht den halben Tag mit Anträgen beschäftigt.“
So kann Emil noch weitergehende Zukunftspläne schmieden: „Angeregt durch meinen Abi-Leistungskurs Gesundheit, aber auch durch meinen Unfall, überlege ich, ob ich nach meiner Ausbildung noch ein Studium aufnehme, um dann vielleicht einmal mit Frischverletzten zu arbeiten. Schließend habe ich während meines Krankenhausaufenthaltes gemerkt, dass die Therapeuten, die selber querschnittgelähmt waren, mir deutlich besser weiterhelfen konnten.“
Gaby Friebel