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Foto // ©Joerg Schwalfenberg
Kiersten Boie
Trotz der großen Entbehrungen, trotz der Trauer um die verlorenen Eltern, versuchen die Kinder in Swasiland ihren Lebensweg zu gehen.
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K. Boje
„Je jünger Kinder sind, desto mehr sollten sie glauben, dass die Welt toll ist, man muss nicht mit jedem schwierigen Thema sofort anfangen, besser ist es, es sinnvoll zu dosieren.“
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c Paula Markert
Kirsten Boie
Kinder haben ein Recht auf Kindheit.
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K. Boje Bestimmt Wird Alles Gut
Feinfühlig, achtsam, engagiert: Mit Kirsten Boie zu sprechen bereichert. Die Hamburger Autorin ist ein Glücksfall für die deutsche Kinder- und Jugendliteratur. Mehr als 100 Bücher hat sie bereits geschrieben: Und alles nur, weil ihr in den 80er Jahren das Jugendamt nach der Adoption ihres Sohnes verbot, weiterhin als Lehrerin zu arbeiten. Bereits ihr Debütroman „Paule ist ein Glücksgriff“ zu diesem Thema bewies ihr großes Gespür für die Gefühls- und Erlebniswelt von Kindern. Boies Stärke ist, dass sie alles kann: Idylle pur beschwören wie in ihrer „Möwenweg“-Serie, aber auch wie in „Ein mittelschönes Leben“ von traurigen Dingen wie Obdachlosigkeit schreiben. Aktuell wird ihr Buch „Bestimmt wird alles gut“, das die Geschichte der Flucht der syrischen Geschwisterkinder Rahaf und Hassan erzählt, in vielen Hamburger Grundschulklassen gelesen. Mit BANGERANG sprach die mittlerweile 66-Jährige über Flucht, Integration, aber auch über ihre neu gegründete „Möwenweg“-Stiftung, deren Schwerpunkt ein Aidswaisen-Projekt im afrikanischen Swasiland ist.
BANGERANG: Frau Boie, wo haben Sie „Rahaf“ und „Hassan“, die beiden syrischen Kinder kennengelernt?
Kirsten Boie: Konkret kann ich es Ihnen gar nicht sagen, um die beiden zu schützen. Schon 2014, also vor mehr als einem Jahr hatte ich ganz intensiv mit dem Thema Flucht zu tun, weil bei uns in der Umgebung Flüchtlinge untergebracht und vor Ort für Begleitung gesorgt wurde. Lange bevor die sogenannte Flüchtlingswelle einsetzte, habe ich mit den Kindern gesprochen, die zu dem Zeitpunkt bereits gut Deutsch konnten und anschließend ihre Namen verändert, um sicherzugehen, dass sie nicht auf mein Buch angesprochen werden können. Viele Journalisten sind jetzt natürlich daran interessiert, sie zu interviewen. Das Wichtigste aber ist jetzt für die beiden Normalität.
Wie muss der Leser sich die Entstehungsgeschichte des Buches „Bestimmt wird alles
gut“ vorstellen? Über welchen Zeitraum erstreckten sich Ihre Gespräche mit den Kindern und den Eltern?
Es war ein einziges Gespräch: Die beiden großen Kinder waren dabei, die Mutter und meine Freundin, die die Familie betreut und wie eine Oma für die Kinder ist. Wir Erwachsenen haben dabei Kaffee getrunken. Bei solchen Gesprächen hat man ja Angst vor sogenannten Retraumatisierungen, dass man da etwas aufreißt. Mir war wichtig, dass die Kinder nur etwas erzählen, was sie selbst erzählen möchten und ich habe angefangen mit der Frage, wie das denn so gewesen sei als Kind in Syrien und dass sie da doch bestimmt viele Freunde hatten. Und dann haben sich die beiden in der Zeit ganz alleine nach vorne gearbeitet. Ab und zu hat auch die Mutter noch etwas auf Arabisch gesagt, was ich aber nicht verstanden habe. Von mir kamen gar keine Fragen nach der Flucht, das ist wirklich von den Kindern gekommen. Die Kinder haben dann auch die Schwerpunkte gesetzt und ich habe die Geschichte dann genau so aufgeschrieben.
Das erklärt dann auch, warum so viele schlimme Ereignisse in Syrien in Ihrem Buch ja nur angedeutet werden, z.B. Menschen, die nicht mehr aufstehen … das Wort „Tod“ kommt im Buch auch gar nicht vor …
Da wäre ich ohnehin sehr vorsichtig gewesen, ich wünsche mir ja, dass die Kinder, die dieses Buch lesen, sich mit den syrischen Kindern identifizieren. In dem Moment, in dem es zu schrecklich wird, machen Kinder zu und legen dann auch Bücher weg. Und genau das wollte ich vermeiden. So kamen mir also die Grenzen, die mir die Kinder beim Erzählen gesetzt haben, sehr entgegen, sonst hätte ich wahrscheinlich viel streichen müssen. Außerdem können Kinder in Deutschland den Verlust der Lieblingspuppe oder der Freunde natürlich auch leichter nachvollziehen … diesen Verlust von allem, Schritt für Schritt. Das ist ja etwas, was auch in Deutschland vorkommen kann, wenn man z. B. in eine andere Stadt umziehen muss. Und die Vorstellung, sein Lieblingskuscheltier zu verlieren, hat für Kinder etwas ganz Schreckliches. Für mich war es sehr überraschend, wie auffallend ruhig mir die Kinder von den Bomben erzählt haben, von der Flucht, von Hunger und Durst. Nicht emotionslos, aber völlig ohne Dramatik. Als sie mir aber von dem Gepäckverlust berichtet haben, waren sie völlig aufgeregt: „Die haben uns das geklaut!“ Als wäre das das Allerschlimmste, was ihnen je passiert ist.
Sie haben kürzlich Hamburger Schulklassen aus Ihrem Buch vorgelesen - welche Szenen gingen den Kindern besonders nahe? War es diese, als die Schlepper den Flüchtlingen das Gepäck gestohlen hatten?
Ja. Außerdem fragen die Kindern immer nach, ob Rahaf ihre Puppe wiederhat oder wie es der Familie jetzt geht. Ich glaube, dieses Buch berührt die Kinder stärker, weil sie wissen, dass es sich nicht um eine ausgedachte Geschichte handelt. Aber die allererste Frage nach der Lesung ist immer, nachdem die Kinder verstanden haben, warum diese Menschen jetzt hier sind: Was können wir jetzt tun? Wie können wir ihnen helfen? Daraus ergeben sich immer Gespräche und Vorschläge. Das finde ich sehr schön, weil Kinder sich darauf einlassen, dass es jemandem schlechtgeht, während die Erwachsenen sich gleich wieder um alles Mögliche sorgen.
Welche Tipps geben Sie Kindern, die Flüchtlingskindern helfen wollen?
Spielt mit ihnen - auch wenn sie noch nicht Deutsch können, es gibt ganz viele Spiele, die man ohne Sprachkenntnisse spielen kann, z.B. Fußball oder ticken. Und dadurch lernen die Kinder ganz schnell die Sprache. Ich sage den Kindern immer, für die Flüchtlingskinder ist es jetzt das Wichtigste, dass sie die deutsche Sprache lernen, also nehmt sie überall mit hin, lasst sie in der Pause nicht alleine stehen. Das ist Integration, würde ich als Erwachsene sagen. Es rührt mich auch, wenn Kinder vorsichtig fragen, ob sie den Kindern etwas schenken dürfen. Ich antworte ihnen dann, wenn sie befreundet sind, dürfen sie ihnen auf jeden Fall etwas geben.
Ihre Hoffnung ist, wie Sie einmal in einer Rede zum Thema Entwicklung der Lesefreude
(2014) gesagt haben, dass gerade die Kinder, die sich mit dem Lesen schwer tun, die nicht in einem Elternhaus mit vielen Büchern aufgewachsen sind, durch Lesungen in der Schule entdecken können, wie toll das Lesen ist und dass sie durch Bücher empathischer und glücklicher werden können. Besonders wichtig ist jetzt sicher auch die Kinder der Generation PEGIDA zu erreichen oder die, deren Eltern vielleicht die AfD wählen?
Natürlich. Und besonders wichtig ist mir auch die Rückmeldung, dass jetzt ganz viele Lehrer mit dem Buch arbeiten. Und allein wenn Lehrer mit ihrer Klasse dieses Buch lesen, hören die Kinder vielleicht etwas anderes, als das, was sie zu Hause hören. Eines ist mir aber noch besonders wichtig: Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich genug tun für die Menschen, die Angst haben. Die, die sich bei PEGIDA versammeln oder AfD wählen, sind nicht unbedingt so weit rechts, wie sie sich positionieren. Ihre Angst wird von rechts aber instrumentalisiert. Es ist vielleicht gar nicht so sehr die Angst vor Islamisierung, sondern mehr die Angst, dass die Flüchtlinge Einfluss auf die eigene Existenz haben. Wenn man z.B. im Niedriglohnsektor arbeitet für den Mindestlohn, z.B. im Sicherheitsdienst, weiß man genau, dass ein Flüchtling nach einem Jahr in Deutschland diesen Job genauso machen könnte - vor allem für viel weniger Geld. Deswegen sind Debatten über die Aussetzung des Mindestlohns für Flüchtlinge fatal. Wenn sich erst einmal solche Ängste aufgebaut haben und einem dann von der AfD noch bestätigt wird, sie hätten ja auch Recht damit und außerdem ginge das christliche Abendland zugrunde, erscheint es ihnen dann so, als hätten sie nicht nur Angst um sich selbst, sondern wären Teil eines großen zu bewahrenden Ganzen. Ich glaube, da hat es große Versäumnisse gegeben, ich habe auch keinen Rat, wie dieses Problem zu lösen ist, außer dass man versucht, den Menschen zu vermitteln, dass wir 80 Millionen sind und bislang eine Million Menschen gekommen sind. Dass die Auswirkungen auf das eigene Leben nicht so sind wie befürchtet. Ich finde es jedenfalls wichtig, dass sensibler mit dieser Thematik umgegangen werden muss und dass man diese Menschen nicht diffamieren darf - wobei ich natürlich nicht den Rechtsextremismus meine, der ist ohne Frage schlimm.
Wenn wir uns im positiven Sinne an Einwanderung gewöhnen und mehr die Chancen sehen, die daraus für das ganze Land erwachsen, ist es sinnvoll, bei den Kindern anzusetzen: Ihr Buch, das in einer zweisprachigen Version erschienen ist und im Anhang ein kleines Wörterbuch mit arabischen Ausdrücken bietet, stellt auf indirekte Art ja diese Bereicherung dar …
Ich bekomme mittlerweile von einigen Eltern die Rückmeldung, dass bei ihnen am Frühstückstisch zunehmend arabische Ausdrücke eingestreut werden, was sie manchmal anstrengend finden, aber Kinder sehen dies natürlich wie eine Geheimsprache an.
Welche Absicht verfolgten Sie mit der zweisprachigen Version? Was erhoffen Sie sich von Ihrem Buch für Flüchtlingskinder?
Ich weiß, dass in Erstaufnahmelagern oder Integrationsklassen mit diesem Buch gearbeitet wird. Es kann für viele hilfreich sein, anhand eines fremden Schicksals noch mal die eigene Geschichte zu erleben. Das ist ja etwas, was bei Büchern oft eine große Rolle spielt. Ich habe z.B. mal ein Buch geschrieben über eine Mutter mit Depressionen und da habe ich relativ viel Post von Kindern erhalten, die mir schrieben, wie erleichtert sie waren, dass es anderen auch so geht - das kann hilfreich sein. Eine Kinderpsychiaterin, die viel mit Flüchtlingskindern arbeitet, meinte, es wäre ein Ansatzpunkt und dadurch dass es in der Muttersprache ist, erleichtert das Buch den Zugang. Wenn Kinder dann nach ca. einem Jahr in den Regelklassen landen, und dort das Buch lesen, können die Eltern es zu Hause auch auf Arabisch lesen. Die Hörbuch-Version wiederum enthält nicht nur die gelesene Geschichte, sondern auch die Stimmen von vier syrischen Kindern, die von ihren Fluchterlebnissen berichten - das ist sehr berührend.
Seit Oktober gibt es sogar noch eine Boardstory online ….
Ja, die steht jetzt sogar kostenlos zur Verfügung, obwohl da sicherlich vom Verlag ein fünfstelliger Betrag investiert worden ist - es ist wirklich großartig, dass bei diesem Thema so eine große Bereitschaft vorhanden ist, zu informieren und dass dies vielen Menschen wichtiger ist als Profit. Das ist einmalig und großartig.
An Ruhestand denken Sie mit Ihren gerade mal 66 Jahren offenbar noch lange nicht?
Kirsten Boie lacht: Ich habe ja einen schönen Beruf.
Kürzlich haben Sie zusammen mit Ihrem Mann die Stiftung „Möwenweg“ gegründet,
benannt nach Ihrer berühmten Kinderbuchserie - was können Sie uns darüber erzählen?
Ich engagiere mich seit neun Jahren für ein Aids-Waisenprojekt in Swasiland, diesem kleinen Land zwischen Südafrika und Mosambik, wo 43 % der 15-Jährigen Waisen sind. Da diese große Zahl von Kindern unmöglich in (praktisch ohnehin nicht vorhandenen) Waisenhäusern betreut werden kann, entstand im Land selbst die Idee der Neighbourhood Carepoints (NCPs). Frauen aus den sogenannten Communitys kochen ehrenamtlich einmal am Tag eine warme Mahlzeit für diese Kinder. Das Projekt „Hand in Hand Swasiland“, wofür ich auch einmal im Jahr nach Afrika fliege, um dort vor Ort Gespräche zu führen mit UNICEF und Ärzte ohne Grenzen, hat 100 dieser NCPs gebaut. Mehr als 5.000 Kinder kommen dort täglich hin, zwei Ambulanzwagen fahren diese Carepoints ab, um dort die Kinder zu untersuchen und mit Impfungen, Vitaminen, Entwurmungstabletten zu versorgen. Seit 2012 machen wir auch HIV-Tests für die Erwachsenen. Darüber hinaus kümmern sich die Krankenschwestern auch um sämtliche Kranken der Umgebung (nicht nur die Kinder), die zu diesen Terminen an die NCPs kommen. Wir möchten gerne das Projekt ausweiten in Richtung Bildung und bieten den Betreuerinnen, den Caregivers, auch pädagogische Fortbildungen und Fortbildungen zur Bedeutung des Lesens und zum Thema Vorlesen an. Die Caregivers sind Ehrenamtliche aus den Dörfern, die ohne Geld arbeiten, aber auch keinerlei Ausbildung haben. Jedes „unserer“ Kinder soll zudem bei Schulbeginn ein Buch geschenkt bekommen. In Swasiland haben Kinder keinerlei Zugang zu neuen Medien oder auch nur Fernsehen, da die Stromversorgung fehlt. Es gibt kein einziges Bilder-, Kinder- oder Jugendbuch in der Landessprache siSwati. 2014 haben wir daher ein kleines zweisprachiges Bilderbuch (englisch-siSwati) für sämtliche 100 Neighbourhood Carepoints drucken lassen. Wir werden in nächster Zeit zwei Bilderbuch-Anthologien erstellen, da es kein einziges Bilderbuch in der Landessprache gibt.
Doch das nächste größere Problem ist folgendes: Wir werden im nächsten Jahr in Afrika eine furchtbare Hungerkatastrophe bekommen aufgrund der aktuellen Dürresituation. 2015 gab es nur einen Starkregen und sonst keinerlei Niederschlag. Meine Befürchtung ist, dass das Geld also eher fürs Essen ausgegeben werden muss als für Bücher.
Das Problem bei uns in Deutschland ist, dass so viel monothematisch berichtet wird, zunächst war es Griechenland, dann das Flüchtlingsthema - und andere Probleme auf der Welt fallen unter den Tisch: erst jetzt wird über diese Problematik berichtet, die aber seit Monaten existiert. Es braucht immer einen Anlass, damit überhaupt berichtet wird.
Gerade in den vergangenen Jahren haben Sie Bücher geschrieben, die schwierige Themen wie Obdachlosigkeit („Ein mittelschönes Leben“), Hunger und Elend in Afrika („Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“) oder Depressionen („Mit Kindern redet ja keiner“) behandeln und nun das Thema Flucht: Werden Sie zunehmend politischer?
Alles was glatt läuft, ist wunderbar, darüber muss ich ja nicht schreiben. Das habe ich zwar auch gemacht, gerade die „Möwenweg“-Bücher sind ja Idylle pur, die Kinder besonders mögen, wenn sie mal Trost und Zuspruch brauchen. Für mich als Autorin ist es aber reizvoll, wenn ich über etwas schreibe, was schwierig ist. Mein jüngstes Buch, „Thabo: Detektiv & Gentleman: Der Nashorn-Fall“, das gerade erschienen ist, ist der erste Band einer Krimiserie, die in einem Land angesiedelt ist, das auf Swasiland basiert. Die Idee dazu habe ich seit Jahren. Da ich ja immer wieder hinfahre, erlebe ich so unglaublich viel, das wollte ich auch mal aufschreiben. Ich wollte nicht immer nur düstere oder traurige Geschichten über Afrika schreiben, das erzeugt ja auch bei unseren Kindern so ein Überlegenheitsgefühl, da klappt doch nie etwas, deswegen wollte ich ein lustiges Buch schreiben, in dem diese Kinder als stark, witzig und schlau geschildert werden. Ich habe mich nie getraut, so etwas zu schreiben, weil ich dachte, das steht mir nicht zu, das muss aus Afrika kommen, das sei sonst eine Form von geistigem Kolonialismus. Nur leider kommt da nichts.
Als ich mit „Thabo“ angefangen habe, war mir zum ersten Mal in mein
em Leben klar, dass es eine Serie wird, da ich so viele Fälle im Kopf habe, die auf spezifisch afrikanischen Verhältnissen beruhen. Also - drei Bücher werden es mindestens werden, das zweite liegt bereits beim Verlag. Ich hoffe, es wird ein Erfolg, dann kann ich daraus auch wieder viel für die Stiftung gewinnen.
Ich wünsche Ihnen viel Erfolg damit - vor allem aber auch viel Unterstützung für Ihre Stiftung!