Kinder und Jugendliche leben heute straff getaktet, ihr Arbeitspensum ist hoch. Unsere Leistungsgesellschaft erwartet in allen Bereichen nur das Beste. Und Eltern geben diesen Druck an ihre Kinder weiter. Gut zu sein reicht nicht, es gilt, das Potential der Kinder maximal auszuschöpfen. In diesem Optimierungswahn verlieren Eltern oft den Blick auf ihre Kinder. Sie sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder, vergessen aber, dass diese großen Anforderungen standhalten müssen. Auch wenn die Kids super funktionieren, sind sie innerlich oft erschöpft und verzweifelt. Der Erziehungsehrgeiz macht aber nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern krank. Was tun?
BANGERANG sprach mit Professor Schulte-Markwort, der sich als Jugendpsychiater seit Jahren mit den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen auf Kinder beschäftigt, über sein neues Buch, Schule, Lehrer und über Strategien aus der Optimierungsfalle. Er meint: „Erst wenn Eltern erkennen, wie super ihre Kids bereits sind, lernen sie, zu fördern, aber nicht zu überfordern.“
Bangerang: Herr Professor Schulte-Markwort, in Ihrem Buch „SuperKids - warum der Erziehungsehrgeiz unsere Familien unglücklich macht“ beschreiben Sie als grundlegendes Problem vieler Eltern Unsicherheit und Angst. Wie wirkt sich das aus?
Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort: Eltern gehen heute zu Recht davon aus, dass Kindheit sich nicht von alleine entwickelt, dass Kinder in ihrer Entwicklung auch immer davon abhängig sind, an den richtigen Stellen gefördert zu werden, dass nichts übersehen wird. Das ist im Prinzip auch eine gute Entwicklung. Angesichts der Vielfalt an Möglichkeiten, an Ratgebern, an Tipps, die man bekommt, was das Beste ist fürs Kind, werden Eltern immer ratloser. Meine Arbeit hat sich sehr gewandelt, ich habe sehr viel mit engagierten Eltern zu tun, worüber ich mich freue. Früher bin ich den Eltern hinterher gelaufen, da waren die Symptome schon so chronifiziert, dass wir es bei der Behandlung schwer hatten. Heute komme ich eher in Situationen, in denen ich sage: „Sie haben ein super-gesundes Kind, gehen Sie beruhigt wieder nach Hause.“ Heute berate ich zunehmend bei Fragen wie: „Sollen wir schon einschulen oder nicht? Welche Schulform ist für mein Kind das Richtige? Gibt es noch einen Extra-Förderkurs? Ist das auffällig, dass sich mein Kind so zurückhält? Spielt mein Kind zu viel Computer?“ Tausend Fragen, mit denen Eltern kommen. Mein Eindruck ist, dass Eltern nicht wahrnehmen, dass sie SuperKids haben, die wunderbar sind. Eltern haben heute das Gefühl, dass sie aus ihren SuperKids Superkids zum Quadrat machen müssen. So entsteht ein Teufelskreis, der sich besonders auf die Kinder überträgt.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang ja von „unerbittlicher Überfürsorge“ …
Genau.
Vom gerade in den Medien beliebten Eltern-Bashing, also der Beschimpfung als Helikopter-Eltern, distanzieren Sie sich ausdrücklich, obwohl Ihnen doch sicherlich in der täglichen Praxis solche „Drohnen-Eltern“, wie Sie sie nennen, begegnen. Warum?
Das hat mehrere Ebenen: Zum einen, weil ich es tatsächlich nicht sehe. Ich begegne natürlich
überfürsorglichen Eltern, aber das ist ein geringer Prozentsatz. Ich meine, dass Eltern angemessen besorgt sind, und ich freue mich auch darüber, wenn Eltern die Kinder- und Jugendpsychiatrie als Dienstleister wahrnehmen, wo man mal hingeht und eine Frage stellt, ohne dass es gleich um hoch-pathologische Zusammenhänge gehen muss, das ist eine gute Entwicklung. Das ist das eine, das andere sind die defizit-orientierten Blicke, die uns als Deutsche vielleicht besonders auszeichnen. Ich möchte, dass wir aufhören, Eltern zu beschimpfen. Es gibt in Hamburg ja immer diese Bilder von Eltern, die morgens vor den Elite-Schulen mit ihren SUVs vorfahren, weil sie ihnen vermeintlich nicht zutrauen, den Schulweg allein zu absolvieren. Das ist oft gar nicht der Hintergrund. Ich kann das als Vater selber sagen, da ich früher auch öfter meinen Sohn oder meine Tochter zur Schule gefahren habe, einfach, weil ich noch zehn Minuten mehr mit ihnen verbringen wollte.
Oftmals ergeben sich auch im Auto ja auch gute Gespräche …
Das stimmt, das ist ähnlich wie beim Spazierengehen, man ist nebeneinander in Bewegung und sitzt sich nicht Face to Face gegenüber, dadurch entstehen andere Gespräche.
Sie plädieren dafür, dass Eltern aufmerksamer wahrnehmen, welch tollen Kinder sie bereits haben - Sie bezeichnen sie als „SuperKids“ - und dass sie diese nicht noch mehr optimieren und noch mehr Potential aus ihnen herauskitzeln sollten. Was kennzeichnet denn die heutige Generation der SuperKids?
Die SuperKids sind es gewohnt, einbezogen zu sein, gefragt zu werden, sie sind reflektiert, selbstbewusst, sozial kompetent, mit ihnen machen Gespräche sehr viel Spaß. Meine Arbeit macht heute viel mehr Freude als noch vor 28 Jahren, weil Kinder heute viel zugänglicher sind. Ich nehme auch oft Patienten, die ich gut kenne, mit in die Vorlesung, und zu 99 % sind die Studenten zutiefst beeindruckt, in welcher Offenheit die Kinder / Jugendlichen im Gespräch mit mir über sich sprechen. Da sitzen sie dann vor hundert Leuten, haben ein Mikrofon vor dem kleinen Gesicht und reden offen und differenziert, das ist wirklich eindrucksvoll.
Nochmals zu den sogenannten Helikopter-Eltern - gibt es denn heute mehr davon?
Die gab es auch schon früher: Wir haben vor zwölf Jahren in Altona eine Ambulanz für Hochbegabte eröffnet und wurden damals sehr gewarnt von Kollegen, die alle gesagt haben, ihr werdet überschwemmt werden von neurotischen Eltern, die alle möchten, dass ihre Kinder hochbegabt sind. Das stimmt überhaupt nicht. Es gibt natürlich auch Eltern, die enttäuscht sind, wenn herauskommt, dass keine Hochbegabung vorliegt. Diese ist nun mal ohnehin selten. Die meisten Eltern sind eher erleichtert. Sie wollen nur wissen, was mit ihrem Kind ist und sie wollen nichts übersehen. Es gibt eine Schrift von Michael Hauch mit dem Titel „Kindheit ist keine Krankheit“, der es schlimm findet, dass Eltern lieber die Diagnose Dyskalkulie in Kauf nehmen, als dass das Kind eine 5 in Mathe bekommt. Ich bin froh, dass wir Teilleistungsstörungen diagnostizieren und dann für das Kind einen Notenschutz einrichten lassen können, damit es nicht für etwas, wofür es nichts kann, abgewertet wird.
Für diesen Nachteilsausgleich setzen Sie sich ja besonders ein, da Kinder ja in anderen Fächern wiederum sehr gut sein können …
Es ist ja auch die Frage, was wir benoten. Ich habe den Eindruck, dass wir mit der mündlichen Note oft gar nicht das Wissen der Kinder benoten, sondern eher ihre Persönlichkeit. Ich habe kürzlich einen Bericht einer Introvertierten gelesen, in dem die Schülerin genau beschreibt, wie sie zeit ihres Lebens abgewertet wurde, nur weil sie introvertiert und ein bisschen ängstlich ist. Ich sage oft zu Lehrern: „Es geht doch darum, dass Sie sich überzeugen, dass das Wissen beim Kind angekommen ist, warum können Sie das nicht anders machen?“ Es gäbe auch andere Möglichkeiten zur Überprüfung, Referate oder das Zweiergespräch, damit das Kind zeigt, was es kann. Aber das kommt nicht vor.
Ich höre hier heraus, und auch in Ihrem Buch gehen Sie darauf ein, dass Sie mit dem System Schule, wie wir es heute in Deutschland haben, sehr unzufrieden sind.
Eigentlich bin ich mit dem System Lehrer unzufrieden. Zum einen gehen wir als Gesellschaft sehr schlecht mit Lehrern um. Zudem muss man feststellen, dass meist die Schlechtesten eines Abitur-Jahrgangs Lehrer werden, das muss nicht bedeuten, dass sie für den Beruf nicht geeignet sind, aber es ist schon eine Aussage, dass nicht die akademischen Eliten Lehrer werden wollen. Ich möchte aber für unsere Kinder die Besten. Weiter muss man feststellen, dass gerade Lehrer für die weiterführenden Schulen nur ganz wenig Pädagogik in ihrer Ausbildung lernen. Außerdem werden Lehrer komplett allein gelassen, es ist nicht üblich, sich unter Lehrern auszutauschen, wie das bei uns Ärzten der Fall ist. Ein Lehrer würde nie zu einem Kollegen sagen: „Komm doch mal mit in meinen Unterricht und gib mir Tipps, was ich besser machen kann.“ Ein anderer Aspekt ist, dass Lehrer am häufigsten von Burn-Out betroffen sind.
Ein System, das offenkundig komplett reformiert werden müsste …
Eindeutig ja. Wir lassen Lehrer alleine. Ich empfehle immer, die Jahrbücher der Hamburger Gymnasien zu lesen, da stehen Lehrersprüche drin, die witzig sein sollen, aber eigentlich müssten die Lehrer vor Scham im Boden versinken. „Du bist dumm wie Brot.“ - „Ich bin doch kein Pizza-Service, bei dem man eine Erklärung abholen kann.“ - „So gut könnt ihr gar nicht sein, um eine Eins bei mir zu bekommen.“
Meine Tochter sagt über eine ihrer Lehrerinnen: „Ich habe den Eindruck, dass sie überhaupt keine Kinder oder Jugendliche mag.“ Sollte das nicht eine Grundvoraussetzung für einen Lehrer sein, dass er sich für Kinder und Jugendliche interessiert?
Das ist wirklich ein dramatischer Satz. Meiner Meinung nach wäre es dringend erforderlich, schriftliche Schüler-Feedbacks zu installieren. Ab der 3. Klasse können Schüler sehr gut mitteilen, mit welchen Teilen des Unterrichts sie in welchem Maß zufrieden sind. Ich werde auch von meinen Studenten bewertet, wenn ich durchfalle, habe ich weniger Geld im Lehr-Budget. Überall, wo ich hinkomme, auch bei Vorträgen, werden Bewertungsfragebögen verteilt. Dieses Feedback-System - angewendet auf die Schulen und die Lehrer - würde sicher einiges verändern. Vor allem würden sich Lehrer dann sofort um mehr Respekt in ihren Beziehungen zu Schülern bemühen.
Mir gefällt der Satz, der über dem Eingang zu Ihrer Station hängt: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Was verbinden Sie mit ihm?
Ich frage Eltern häufiger: „Wie funktioniert eine Liebesbeziehung unter Erwachsenen?“ Doch nicht, indem ich den anderen kontrolliere. Erwachsene Liebesbeziehungen sind zum Scheitern verurteilt, wenn man die Idee hat, ich muss beim anderen sofort diese oder jene Eigenschaft verändern. Liebesbeziehungen funktionieren nur, wenn man Vertrauen hat und es einen Vertrauensvorschuss gibt, das ist die Brücke, über die man gehen kann. Wir haben auf der Akutstation ständig mit suizidalen Mädchen zu tun. Diese Station ist geschlossen. Das bietet auch den Mädchen ganz viel Sicherheit, aber wir müssen sie auch wieder ins Leben lassen, müssen ihnen etwas zutrauen - mit vollem Risiko, sonst müssen wir sie ein Leben lang einsperren. Das ist keine Alternative. Wir müssen ihnen vertrauen und sagen, du wirst es schon machen. Kindliche Entwicklung funktioniert nur, wenn man manchmal nicht hinguckt. Jeder weiß aus seiner Kindheit, dass es Dinge gab, von denen die Eltern nichts wussten.
Und das war auch gut so …
Jeder sagt, das war auch gut so, nur wenn man in der Elternrolle ist, vergisst man das und denkt, das gilt nicht mehr. Ich muss Eltern oft an ihre eigene Pubertät erinnern. Genau deswegen ist dieser Satz so wichtig, wir bauen ihn im Moment auch aus, wir machen Behandlungskonferenzen mit den Kindern zusammen und experimentieren mit offenen Übergaben zwischen Früh- und Spätschicht, bei der auch die Kinder dabei sein können, wenn sie wollen. Sie müssen hören, was über sie gesagt wird, damit sie sagen können: „Nein, ich war heute Morgen nicht so, wie du es gerade schilderst.“ Deswegen bauen wir auch architektonisch alles um, es sollen Lobbys entstehen mit einem Tresen, an dem die Schwestern dokumentieren, es soll keine abgeschlossenen Stationszimmer mehr geben. Wir leben miteinander, wir schließen uns nicht ein, um dort über die Kinder zu sprechen. Seit zwei Jahren schreibe ich meine Arztbriefe direkt an die Kinder.
Interessant - wie ist das Feedback darauf?
Die Kinder finden das super-gut, die Eltern sind zuerst überrascht, aber sagen sich dann, ja, der Hauptadressat ist mein Kind. In Arztpraxen ist die Resonanz unterschiedlich: Manche finden so etwas komisch, weil sie finden, dass ich die Arztsprache verlasse. Und andere Ärzte denken darüber nach, ob diese Form nicht richtiger ist.
Sehen Sie bei Ihren Suizid-Fällen einen Zusammenhang mit dem gestiegenen Leistungsdruck?
Die Suizidalität als solche hat sich nicht verändert. Die Suizid-Raten sinken in Deutschland eher, wir leben ohnehin in einem Land, in dem die Rate nicht besonders hoch ist: 9 auf 100.000 Einwohnern, mit zwei Altersgipfeln, der eine in der Adoleszenz und der andere jenseits der 80. Männer bringen sich um und Jungs, Mädchen machen 40:1-Suizid-Versuche. Das, was zunimmt, und das habe ich auch in meinem „Burn-Out“-Buch beschrieben, ist die Erschöpfungsdepression. Sie nimmt deutlich zu. Erschöpfte Abiturientinnen meistens, erschöpfte Oberstufenschüler, meist Mädchen, die nicht mehr wissen, wie sie alles bewältigen sollen, Kinder, die sagen: „Ein Abi mit 1,5 ist nichts wert.“ Das ist schon dramatisch. Es gibt auch einen deutlichen Wandel: Früher sagten die Eltern: „Du sollst es mal besser haben als ich“ - und die Wahrscheinlichkeit, dass dies auch eintrat, war ziemlich hoch, heute sagen die Kinder: „Ich weiß nicht, ob ich diesen Lebensstandard später halten kann.“ Dazu kommen noch die ganzen Kriege heute und diese unglaubliche Gewalt weltweit, Kinder heute müssen viel mehr mit Kriegen leben als wir früher.
Was finden Sie denn an den heutigen Eltern gut?
Gut finde ich, dass sie sich kümmern, dass sie sich bemühen, aufmerksam zu sein, dass es
ihnen nicht egal ist, was aus ihren Kindern wird. Die Beobachtungsgabe der Eltern wird feiner. Ich habe es mit aufgeklärten und informierten Eltern zu tun. Ich werde oft gefragt, ob wir nicht Probleme in die Kinder hineinreden oder sie zu Sensibelchen machen, die nicht lernen, mit Problemen umzugehen. Ich habe nicht diesen Eindruck, da ich weiß, dass immer noch über 48 % der Kinder mit einer psychiatrischen Diagnose in Deutschland nicht in Behandlung sind, weil es keine Behandlungskapazitäten gibt. Wir haben hier eine Warteliste von 40 Patienten für eine Station mit 13 Betten, d.h. es muss sechs Monate gewartet werden, das ist völlig unethisch! Schrecklich! Wer das übersteht, muss gesund sein! Wir haben hier in Deutschland eine Sektor-Versorgung und natürlich versorgen wir unseren Sektor, d.h. wenn Sie in Not sind mit Ihrem Kind, können Sie 24 Stunden, sieben Tage die Woche zu uns kommen und wenn es eine Notfall-Indikation gibt, nehmen wir auch auf, egal, wie voll die Station ist, dann werden Matratzen ausgerollt, und auch das ist ein unhaltbarer Zustand.
Werden dann auch Kinder, die als Notfall aufgenommen wurden, gezwungenermaßen früher entlassen?
Ja, genau. Wir machen hier auf der Akutstation so etwas wie Triage, wie im Kriegslazarett: Wer muss sofort versorgt werden? Wer kann warten? Wer kann gehen? Das ist schrecklich! Und da gehen wir wieder Risiken ein, das geht gar nicht!
Da müsste von der Politik oder auch von den Eltern Abhilfe gefordert werden.
Ja. Ich sage immer, Kinder haben zu wenig Lobby. Wenn ein Bereich für Erwachsene so wenig Fachärzte hätte, würde ein Aufschrei durch die Bevölkerung gehen.
Zurück zu den Eltern: Mit diesen aufgeklärten Eltern, die sich schon vorher informiert haben, kann ich einen Pakt auf Augenhöhe schließen: „Was ist gut. Was ist nicht gut. Vertrauen Sie mir, wo können Sie mir etwas überlassen? Wo ist es Ihre Eltern-Entscheidung?“ Es ist eine Balance des Gebens und Nehmens.
Wenn sich jetzt z.B. Eltern melden, deren Kind gerade Abitur gemacht hat und die das Gefühl haben, dass ihr Kind durchhängt, wie lange dauert es, einen Termin bei Ihnen zu bekommen?
Bei mir zwischen zwei und drei Monaten, ich bin aber auch nicht allein, wer nicht darauf besteht, mit mir zu sprechen, der kann auch schon früher einen Termin bekommen, es gibt ja auch eine Ambulanz in Altona. Ich treffe keine Auswahl, das läuft alles über mein Sekretariat, wer irgendein Leid hat, kann mit mir sprechen, auch die Oma über ihren Enkel.
Sie untersuchen ja Tag für Tag viele Kinder und Jugendliche, sie diagnostizieren auch Teilleistungsstörungen: Womit kommen Eltern am wenigsten zu Recht?
Für Eltern ist eine schlechte kognitive Ausstattung oder eine geistige Behinderung am schlimmsten, weil es für die Eltern oft der Hinweis ist, dass ein Kind nicht lebensfähig ist, also keine Chancen in dieser Gesellschaft hat. Ich finde, dass wir uns darum dringend kümmern müssen, denn unter Umständen kann ein solches Kind ein begabter Kaufmann oder Friseur werden. Es gibt in dieser Gesellschaft keinen Platz für Dumme. Dummheit gleicht einem sozialen Todesurteil.
Sind wir zu fokussiert auf Intelligenz statt den Menschen im Gesamten zu sehen?
Intelligenz zählt zu den vermeintlich größten Gütern, aber das ist ein Irrglaube. Die Gespräche, die ich mit behinderten Kindern führe, sind nicht weniger beeindruckend als mit begabten Kindern, nur anders.
In diesem Zusammenhang sehe ich auch die Problematik der Pränataldiagnostik, wie wir sie auch in BANGERANG bereits dargelegt haben: Die Suche nach dem perfekten Kind beginnt immer früher, ohne zu reflektieren, was bei einem Schwangerschaftsabbruch an Schuldgefühlen entstehen kann.
Ich bin in der Kommission für Fetozide am UKE. Wenn nach der Fristenregelung die Mütter einen Abbruch wünschen, dann sind diese Kinder oft schon lebensfähig, das heißt, man muss sie mit einer Kaliuminjektion in den Herzmuskel abtöten und danach erst die Geburt einleiten, sonst wäre es Kindstötung. Und wir sind in dieser Kommission oft die einzigen, die sagen, dass auch ein geistig behindertes oder schwerst behindertes Kind ein Anrecht auf Leben hat. Es gibt ja nur noch die mütterliche Indikation, also wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist oder es sonst unzumutbar für die Mutter ist, das Kind auszutragen. Aber wir können doch Depressionen behandeln, wir können der Mutter sagen: „Selbstverständlich kümmern uns um dich, wenn du Hilfe brauchst.“ Wir tun so, als ob wir das Problem lösen könnten, indem wir das Kind abtöten. Und da gibt es durchaus Kollegen, die meinen, ein behindertes Kind sei einer modernen Familie nicht mehr zuzumuten. Da sind wir ethisch in einer ganz anderen Dimension. Die Schuldgefühle, wenn solch ein Kind in der 22./23. Woche abgetrieben wird, sind erheblich. Wir haben mittlerweile eine absolut paradoxe Situation: In der Neonatologie liegen oft Kinder aus der 25. Schwangerschaftswoche, die mit High-Tech am Leben erhalten werden, wo die Eltern um jeden Preis, auch den von Handicaps darum kämpfen, dass sie am Leben bleiben, und dann wiederum die Mütter, die sagen, dieses Kind will ich auf gar keinen Fall. Das ist kompliziert. Das ist Huxleys „Schöne Neue Welt“, der das alles schon 1934 beschrieben hat.
Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen nehmen Ihrer Erfahrung nach nicht zu - wohl aber Erschöpfungsdepressionen und Schmerzsyndrome, deshalb haben Sie ja auch im vergangenen Jahr das Buch „Burn-Out Kids“ herausgebracht. Erschreckend finde ich, dass auch vergleichsweise junge Kinder bereits betroffen sind …
Typischerweise betrifft es meist die Kinder in der 10. Klasse oder dann die in der Oberstufe, die versuchen, mit einer 50-Stunden-Woche alles zu regeln. Dann haben wir aber auch die Neunjährigen, die in der vierten Klasse erheblich unter Druck geraten und denken, wenn ich den Übergang aufs Gymnasium nicht schaffe, ist mein Leben gelaufen. Gutes Beispiel dafür sind die bayrischen Mütter, da man in Bayern nicht aussuchen kann, auf welche weiterführende Schule das Kind gehen darf. Für die ist die 4. Klasse die Horrorklasse, weil sie so unglaublich viel mit den Kindern für den Übergang ackern müssen.
Heute sind intrinsisch motivierte Kinder häufig: Früher hatte ich Eltern, die fragten: „Was kann ich tun, damit ER mehr lernt?“, heute fragen sie: „Was kann ich tun, damit SIE weniger lernt?“ Wir müssen die Kinder durch die Schule hindurchführen. Mit einem Abi-Durchschnitt von 1,7 ist es schwerer, Ärztin zu werden, aber es gibt Möglichkeiten. Ich war auch ein Berufener und habe fünf Jahre auf meinen Studienplatz gewartet. Ich wusste einfach, ich will Arzt werden.
Heutzutage wissen aber viele Abiturienten oft nicht, was sie machen wollen, viele haben Angst, falsche Entscheidungen zu treffen und meinen, sie müssen ohne Umwege sofort ihren Traumberuf finden, bei Ihnen stellen sich zunehmend mehr Schulabsolventen vor, die an Depressionen leiden …
Die Fülle des Angebots ist unübersichtlich. Ich sitze in meiner Ambulanz ganz selten alleine, oft sitzen neben mir Abiturienten, die meine Arbeit beobachten, um herauszufinden, ob dies etwas für sie sein könnte oder nicht. Das ist hilfreich, so bekommen sie Praxis mit. Wie soll man sonst herausfinden, wie am Ende alles aussieht oder wie sich das alles anfühlt.
Erziehung finden Sie eher überbewertet - Sie meinen, dass die ganzen Erziehungsratgeber nicht wirklich nützen. Viel wichtiger ist Ihnen die Beziehung zum Kind - können Sie das weiter ausführen?
Ich meine, dass mein Vergleich mit der erwachsenen Liebesbeziehung nicht schlecht ist: Wie geht man miteinander um, wenn man sich mag und liebt? Man achtet auf die gemeinsamen Schnittmengen. Auf die Inseln der Gemeinsamkeit. Fragt sich, wie bekommen wir das gemeinsam hin? Dann muss man wiederum Dinge vorleben. Man kann natürlich schon sagen: Ich möchte, dass du das so und so machst. Aber vieles muss man im Wesentlichen vorleben: Wie man miteinander spricht. Wie man eine Beziehung gestaltet. Das schauen sich Kinder von den Eltern ab. Dann muss man manchmal gar nicht viel reden. Erziehung beginnt, wenn man das erste Mal Nein sagen muss, das fällt vielen Eltern sehr schwer. Vieles wird oftmals so künstlich reguliert, z.B. wenn sich 16-jährige Geschwister wegen der Süßigkeiten streiten und dann diese nachmittags zugeteilt werden. Das ist doch Entmündigung. Oder nehmen wir das Thema Computerspiele. Ein psychisch gesundes Kind entwickelt keine PC-Abhängigkeit, sondern es entwickelt eine Phase des intensiven Ausprobierens. Es ist doch jetzt schon so: Viele Kinder sagen, Facebook ist nicht das Richtige oder warnen mich vor der Weitergabe von Daten über Instagram oder Whats App. Die Kinder fangen an, sehr verantwortlich damit umzugehen. Wer das weniger verantwortlich hinbekommt, sind doch wir: Wir haben doch das Ganze zu verantworten. In einer Beziehung handelt man miteinander bestimmte Regeln aus im Verlauf der Zeit und lernt, dass man bestimmte Dinge auch einfach hinnehmen muss. Bestes Beispiel ist der berühmte Loriot-Klassiker, in dem es um die aufgerollte oder ausgedrückte Zahnpasta-Tube geht. Darüber kann man sich ein Leben lang streiten. Oder liebevoll sagen: „Du magst es eben lieber ausgequetscht …“ In einer Liebesbeziehung verkämpft man sich nicht wegen so etwas.
Verkämpfen ist ein gutes Stichwort …
Bei uns gibt es den Satz: „Wer sich mit einem Kind - das kann auch ein Säugling sein - in einen Machtkampf begibt, hat verloren!“ Wenn Sie einen schreienden Säugling anbrüllen, er soll doch endlich aufhören, schreit er noch mehr.
Welche Vorschläge machen Sie Eltern, um für mehr Balance und Ruhe im Optimierungskarussell, dem man ja allein durch das System Schule nur schwer entkommen kann, zu sorgen?
Ich finde, Beistand ist ein wichtiges Wort. Und Fürsorge. Das sind Begriffe, die ich in diesem Kontext wichtig finde. Wenn ich fürsorglich bin zu meinem Kind, dann heißt das, dass ich mein Kind auch mal zum Sport fahre und ihm sage: „Mach mal Sport, dann werden deine Muskeln stärker.“ Oder wenn ich sage: „Ich versteh‘ schon, ich koch dir mal Grießbrei.“ Wenn ich wirklich im Beistand bin und wirklich fürsorglich, wird mir immer einfallen, welches der nächste Schritt ist fürs Kind. Dann bin ich mal dicht dabei, aber gehe auch mal wieder weiter weg. Oszillierende Beziehungszustände: Dran sein und loslassen. Ich ermuntere Eltern: „Sie sind die Experten für Ihr Kind: Was meinen Sie als Expertin für Ihr Kind?“ Es geht oft gar nicht um Richtig oder Falsch, sondern um Rot oder Grün. Und dann stärke ich Eltern, zu sagen: „Ich finde aber Rot schöner.“
Oftmals müssen es auch gar keine großen Aktionen sein …
Ja, genau. Eine gemeinsame Mahlzeit am Tag: Es gibt doch nichts Gemütlicheres, als in der Küche zu sitzen: Einer kocht oder zwei. Viele Eltern beschweren sich, dass ihre Kinder nicht mithelfen und wenn ich dann nachhake: „Wie fragen Sie denn?“, sagen sie: „Bring mal den Müll raus! Räum die Spülmaschine aus!“ Man könnte doch auch sagen: „Wir sitzen gerade so schön zusammen in der Küche, schneid doch mal schnell die Tomaten“, so entsteht ein gemeinsames Kochen, ein gemeinsames Essen, und das hat dann auch einfach einen anderen Wert. Gemeinsame Mahlzeiten sind ganz wichtig.
Viele Eltern sind heutzutage besorgt wegen Handysucht, Computer- und Konsolen-Spielen ihrer Kinder und sind da öfter in Machtkämpfe verwickelt: Sie als Experte raten ja, sich anzuschauen, was die Kinder da spielen, aber auch großzügiger zu sein …
Das ist alles kein Teufelszeug. Lassen Sie sich von Ihren Kindern erklären, was sie da spielen. Machen Sie die Kinder zu Experten, sie sind ohnehin diejenigen, die später damit ihr Leben gestalten müssen. Wir diskutieren immer, auf welche Zukunft wir uns einstellen müssen. Aber in Wirklichkeit müssten wir uns fragen: „Welche Zukunft haben unsere Kinder?“ Wir müssen sie dafür fit machen, statt zu sagen: „Du darfst erst mit 20 ein Handy haben.“